Diagnose von axialer Spondyloarthritis – Joachim Sieper im Interview (Teil 1)
Joachim Sieper ist emeritierter Professor für Rheumatologie am Campus Benjamin Franklin der Charité Berlin. Im Interview mit der Online-Redakteurin Eva Reidemeister verrät er, warum der Begriff „Morbus Bechterew“ überholt ist und warum wir heute von axialer Spondyloarthritis sprechen.
Außerdem: Für die Diagnose muss das medizinische Fachpersonal aus Radiologie und Rheumatologie eng zusammenarbeiten. Lies weiter, um zu erfahren, wie.
Eva Reidemeister: Es mag an meinem Hintergrund als Redakteurin liegen, aber das Erste, was mir bei der Auseinandersetzung mit dem Thema aufgefallen ist: Die axiale Spondyloarthritis hat einen Begriffswandel durchgemacht. Früher hat man noch von Morbus Bechterew gesprochen. Inzwischen gilt das als überholt und andere Begriffe sind üblich, um die Krankheit zu beschreiben. Welche sind das – und warum?
Joachim Sieper: Die alte Nomenklatur geht zurück auf ca. 1900. Damals konnte man die Diagnose erstellen, wenn die Wirbelsäule völlig verknöchert und völlig versteift war. Und aus dieser Zeit stammt der Begriff Morbus Bechterew.
Bechterew war ein russischer Neurologe, der Ende des 19. Jahrhunderts gelebt hat. Außerdem gibt es den Begriff ankylosierende Spondylitis, was ja heißt: Die Wirbelsäule ist verknöchert. Diese Begriffe kommen aus dieser Zeit.
Man weiß aber seit den 1930er Jahren, dass die Erkrankung in den Sakroiliakalgelenken, den Kreuz-Darmbein-Gelenken, losgeht – bevor die Wirbelsäule betroffen wird – und daher kommt dann, dass man das Becken geröntgt hat und die Veränderungen im Beckenröntgen eine entscheidende Rolle bei der Diagnosestellung gespielt haben. Seit etwa den 1990er Jahren hat man mehr und mehr realisiert, dass das, was man im Röntgen sieht, Folgen der Entzündung sind, die vorausgegangen ist.
Im Röntgen sieht man nur etwas, wenn der Knochen zerstört ist beziehungsweise wenn als Reaktion auf die Knochenzerstörung eine vermehrte Knochenneubildung stattfindet. Dementsprechend sieht man erst relativ spät etwas. Da kommt die Magnetresonanztomografie (MRT) beziehungsweise Kernspintomografie ins Spiel. Früher hatte man Szintigrafie, aber die ist relativ unspezifisch in der Aussage. Die MRT bietet hingegen den enormen Vorteil, dass man die Entzündungen in den Knochen sieht.
Man muss also nicht warten, bis der Knochen zerstört ist. Dadurch wird die Frühdiagnose möglich. Deswegen sagen wir jetzt axiale Spondyloarthritis. Das umfasst die gesamte Krankheitsgruppe, egal ob Röntgenveränderungen da sind oder nicht. Das kann man gegebenenfalls noch unterteilen in:
- Nicht-röntgenologische axiale Spondyloarthritis (keine Röntgenveränderungen sichtbar)
- Röntgenologische axiale Spondyloarthritis (Röntgenveränderungen sichtbar)
Daneben existieren die alten Begriffe Morbus Bechterew und ankylosierende Spondylitis weiter.
ER: Das heißt, der Wandel in der Begrifflichkeit hat viel damit zu tun, wie man die Krankheit früher und heute diagnostiziert. Doch wie häufig ist die Diagnose axSpA heute eigentlich – und wie wird sie gestellt?
JS: Es gibt eine ältere Untersuchung aus einer allgemeinmedizinischen Praxis aus England. Darauf beziehen wir uns immer. Das ist zwar immer noch ein wenig unscharf, aber wir gehen etwa davon aus, dass unter den Leuten mit chronischen Rückenschmerzen, die deshalb zum Arzt gehen, etwa 5 % eine axSpA haben. Das ist relativ wenig. Und deswegen resultiert jeder Test, der allein positiv ist, in einer relativ niedrigen Posttestwahrscheinlichkeit.
Das ist ja ein Begriff, der im Zusammenhang mit dem Coronavirus immer wieder diskutiert wird: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, wenn ich Antikörper habe, dass ich die Erkrankung habe? Aber das gilt generell in der Medizin und weil wir eine relativ niedrige Prätestwahrscheinlichkeit haben, kann man nicht mit einem einfachen Test die Diagnose stellen. Man muss verschiedene Tests zusammennehmen und die Gesamtschau dabei berücksichtigen.
Vor diesem Hintergrund sagen wir bereits seit einigen Jahren, dass es zwei Strategien gibt. Einmal: Was bietet man dem Arzt an, der diesen Patienten mit chronischen Rückenschmerzen zuerst sieht? Wir glauben eigentlich nicht, dass dieser in der Lage ist, die Diagnose ohne Weiteres gut zu stellen, weil es komplex ist und man Erfahrung haben muss. Und deswegen haben wir noch andere sogenannte Screening-Parameter entwickelt, also „rote Fahnen“, die dem Doktor anzeigen, wann er auch an axSpA denken sollte, wenn ein Patient mit Beschwerden vor ihm sitzt.
ER: Rückenschmerzen sind geradezu eine Volkskrankheit, aber axSpA ist selten. Wie kommt man der axialen Spondyloarthritis dann überhaupt auf die Spur? Ich würde ja erst mal mit recht unspezifischen Problemen zum Arzt gehen. Wahrscheinlich würde ich über Schmerzen im unteren Rücken klagen. Aber das kann ja vieles sein, zum Beispiel auch stressbedingt.
JS: Aber wenn zum Beispiel dieser Patient sagt: „Oh, die Rückenschmerzen treten morgens auf, wenn ich aufwache und wenn ich etwas herumlaufe, wird’s besser. Aber beim Sitzen, in Ruhe, wird’s nicht besser.“ Dann ist das schon mal ein Hinweis darauf, dass eine axiale Spondyloarthritis vorliegen kann.
Aber auch wenn andere Parameter positiv sind, zum Beispiel eine Schuppenflechte ist vorhanden oder man hat einen Labortest durchgeführt und dieses Gen, HLA-B27, war positiv.
Vor allem bei jungen Patienten gilt, wenn nur einer dieser Parameter positiv ist, dann haben wir die Überweisung zum Rheumatologen empfohlen. In manchen Ländern kümmern sich auch Fachärzte der physikalischen Medizin um diese Patienten. In Deutschland fällt es am ehesten in den Bereich der Rheumatologie und der Rheumatologe muss dann alle Untersuchungen machen.
ER: Welche Fragen würde man da zum Beispiel in der Anamnese stellen? Ich denke da auch an Nebenerkrankungen wie Schuppenflechte (Psoriasis), die häufig mit axSpA zusammen auftreten. Also wie würde man da vorgehen?
JS: Bei der Anamnese muss man fragen, wann die Schmerzen auftreten (eher morgens oder eher abends). Wie sieht es bei Bewegung aus? Außerdem wird nach Schuppenflechte, Morbus Crohn und anderen Krankheiten gefragt – auch ob diese vielleicht bereits in der Familie aufgetreten sind. Dann müssen das HLA-B27-Gen und Entzündungsparameter wie Blutsenkung und C-reaktives Protein bestimmt werden. Und dann kommt die Bildgebung entscheidend dazu.
Meist sucht der Rheumatologe dazu das Zwiegespräch mit dem Radiologen. Der Grund: Rückenschmerz können wir ja nicht einsehen. Deshalb brauchen wir unbedingt eine Methode, die uns hilft, die Ursache für diese Schmerzen zu interpretieren, und dabei hilft die Bildgebung sowohl in der frühen Phase, um die Entzündungen nachzuweisen, als auch in der fortgeschrittenen Phase, wenn die Entzündung bereits Knochenzerstörung und -neubildung in der Wirbelsäule und im Becken hervorgerufen hat.
ER: Was ist aus rheumatologischer Sicht die größte Herausforderung bei der Diagnose von axSpA?
JS: Zunächst mal alle klinischen Labor- und bildgebenden Parameter zusammenzufassen und dann aber auch, die Bildgebung zu interpretieren. Weil es für positive Befunde, wie generell in der Medizin, immer eine relativ große Differenzialdiagnose gibt. Also am Beispiel eines positiven MRT-Befunds: Da sieht man ein Ödem, also eine Wasseransammlung im Knochen, und das kann ein erstes Anzeichen für eine axiale Spondyloarthritis sein, weil der Immunprozess, den man gar nicht so genau versteht, lokale Entzündungen auslöst.
Im Rahmen von Forschungen hat man das mal bei Patienten punktiert, also mit einer Nadel eine Probe genommen, und deutliche Entzündungsprozesse gesehen. Aber in der MRT sieht zum Beispiel ein mechanischer Stress sehr ähnlich aus, etwa bei Joggern oder im Rahmen von Schwangerschaften, wo der Druck auf das Becken groß ist. Diese sind aber eben mechanisch und nicht durch einen Immunprozess ausgelöst. Das ist jedoch aufgrund der Bildgebung alleine zunächst nicht zu entscheiden. Da braucht man Erfahrung und muss sich mit dem Radiologen besprechen. Außerdem müssen alle anderen Befunde, die ich aufgezählt habe, und Informationen aus der Anamnese miteinbezogen werden.
Was also der Radiologe berücksichtigen muss: Nur allein aufgrund der Bildgebung kann er die Diagnose nicht stellen, sondern kann praktisch nur beschreiben, was er sieht, und das muss dann von jemandem – in der Regel ist es der Rheumatologe – zusammengefasst werden.
ER: Das heißt, speziell für diese Krankheit ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit sehr wichtig – dass Rheumatologie und Radiologie eng zusammenarbeiten.
JS: Ja, genau.
ER: Der Rheumatologe weiß sozusagen über die entzündlichen Prozesse Bescheid, während der Radiologe gut erkennen kann, wie die Krankheit aussieht. Was können beide voneinander lernen beziehungsweise mitnehmen?
JS: Für den Radiologen ist, wie gesagt, wichtig, dass er die Diagnose nicht allein aufgrund der Bildgebung stellen kann. Symptomatik und andere Parameter (HLA-B27, CRP) müssen miteinbezogen werden, zum Beispiel: Hat der Patient auch ein geschwollenes Knie oder eine geschwollene Ferse? Denn das sind noch andere Manifestationen der Krankheit außerhalb des Achsenskeletts. Und weil das außerhalb des Interesses des Radiologen ist, muss er das Zwiegespräch mit dem Rheumatologen suchen oder der Rheumatologe stellt am Ende die Diagnose.
Für den Rheumatologen wiederum ist ganz wichtig, sich immer vor Augen zu führen, dass es eine relativ große Differenzialdiagnose gibt, warum ein Befund in der Bildgebung positiv sein kann, und dass man in der Regel als Rheumatologe gar nicht diese Erfahrung hat, das genau zu interpretieren. Auch die anderen Erkrankungen, die infrage kommen, zum Beispiel Knochenmarködem im Rahmen der Schwangerschaft – damit kennt man sich gar nicht so genau aus. Da braucht man nochmal den Rat vom Radiologen.
ER: Was wird aktuell dafür getan, dass diese beiden Disziplinen enger zusammenarbeiten, auch um sich auszutauschen und von der anderen Seite zu erfahren, was derzeit der Forschungsstand ist?
JS: Auf dem Gebiet der Spondyloarthritis gibt es weltweit 5 bis 10 Gruppen, wo die Zusammenarbeit zwischen Rheumatologen und Radiologen sehr intensiv ist. Das sind dann auch die Gruppen, von denen die Vorschläge für Definitionen, positive Befunde, Differenzialdiagnosen und so weiter ausgehen. Sie organisieren außerdem Fortbildungen, die in der Vergangenheit meist für Rheumatologen waren.
Eigentlich würde es Sinn machen, in Zukunft da auch mehr Radiologen miteinzubeziehen. Zum Teil findet das schon statt, aber auch nicht alle Radiologen kümmern sich ums Achsenskelett – oder Rheuma, wenn zum Beispiel auch die Hände bei der rheumatoiden Arthritis betroffen sind.
Bei der gemeinsamen Zusammenarbeit gibt es noch Luft nach oben. Das war auch eine Idee hinter dem BerlinCaseViewer, dass man mit solch einer App auch einen breiteren Kreis interessieren kann, also auch Radiologen, die sich dann über die App die verschiedenen Fälle mit anschauen.
ER: Ist so auch der BerlinCaseViewer entstanden? Schließlich stehen Kay G. Hermann als Radiologe und du als Rheumatologe fachlich hinter der App.
JS: Eigentlich besteht diese Kooperation seit 25 Jahren. Wir waren auch damals einer der Ersten, als das Universitätsklinikum Benjamin Franklin noch nicht zur Charité gehörte, als wir angefangen haben, MRT-Untersuchungen bei Patienten mit Spondyloarthritis durchzuführen. Das war Doktor Bollow – und Doktor Hermann hat bei ihm studiert und war in der gleichen Abteilung. Er hat diese Zusammenarbeit dann fortgesetzt, sodass wir eigentlich kontinuierlich an diesen Fragestellungen, die wir jetzt ein bisschen umrissen haben, seit 25 Jahren arbeiten.
Weltweit gibt es eine Reihe von Gruppen, die sich ebenfalls damit beschäftigen. Nur als Beispiel: Herr Hermann und ich waren in Brasilien – ich glaube, sogar zwei Mal – und haben dort Fortbildungen zur Interpretation der Bildgebung im Zusammenhang mit der klinischen Präsentation der Patienten gemacht. Diese Veranstaltungen wurden aber in der Regel immer von Rheumatologen besucht, was vor allem an der lokalen Organisation, also daran lag, wer eingeladen worden ist. Das ist ein Ziel, da die Interaktion noch zu verbessern.
ER: Der BerlinCaseViewer hat sich jetzt auch für andere Themen geöffnet, aus der aktuellen Situation heraus etwa für das Coronavirus. Die App kann man auch für andere Krankheiten nutzen. Ist das ein Plan für die Zukunft?
JS: Ich bin ja Rheumatologe und stehe für Spondyloarthriden – also für mich persönlich nicht, aber es ist sicherlich denkbar, die Energie, die auch in die Softwareentwicklung gesteckt worden ist, so zu nutzen. Wir haben die Fälle zusammengestellt, auf die iPads gespielt und die iPads auch mitgenommen.
Rechtzeitig mit der Corona-Krise haben wir auch eine Webversion entwickelt. Und haben auch jetzt schon vier Onlinekurse gemacht. Also da ist eine Menge Arbeit reingesteckt worden und das kann man ohne Probleme auch für andere Krankheitsbilder verwenden. Denkbar ist zum Beispiel auch die Ausweitung in den Bereich der Neurologie, aber hier ist Herr Hermann eindeutig der bessere Ansprechpartner, um nochmal mehr Details für die Zukunft darzulegen.